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[Rezension] “Hunger” von Roxane Gay

Nachdem ich im Mai bereits Bad Feminist gelesen habe, bei dem es sich um eine Essay-Sammlung zu feministischen Themen handelt, war ich schon sehr gespannt auf Roxane Gays autobiografisches Buch Hunger, in dem sie die Geschichte ihres Körpers erzählt.

Zum Inhalt

In Hunger beschreibt Roxane Gay die Geschichte ihres Körpers. In einer Welt, in der es für Frauen offenbar das größte Ziel ist, dünn zu sein, macht sie die Erfahrung, dass sie immer wieder über ihr Gewicht definiert wird. Denn das entspricht nicht den heutigen Schönheitsidealen. Über 250 Kilo hat sie schon auf die Waage gebracht. Die Leute urteilen schnell, aber kaum jemand kennt den Grund für ihr Übergewicht. Diese Geschichte erzählt sie hier.
Sie erzählt von ihrer Vergewaltigung. Etwas, das sie lange niemandem erzählt hat und sich stattdessen in den Trost des Essens geflüchtet hat. Ein Trost, der ihr einen Schutzpanzer verschaffte, einen Körper, der nicht mehr so leicht verletzt werden könnte. Stattdessen kamen andere Verletzungen hinzu. Sie erzählt, mit welchen unmenschlichen Reaktionen, mit welchen Schwierigkeiten und Gefühlen man umgehen muss, wenn man eben nicht das Bild erfüllt, das die Welt von einem erwartet.

Meine Meinung

“Mein Vater glaubt, der Hunger ist im Kopf. Ich weiß, dass es anders ist. Ich weiß, dass Hunger im Kopf ist und im Herz und in der Seele.”

Roxane Gay, Hunger, S. 202

Roxane Gays Geschichte hat mich tief berührt. Body Positivity ist heute in aller Munde und dennoch haben wir immer noch das Idealbild einer schlanken Frau mit Kurven an den richtigen Stellen im Kopf.
Man weiß, dass krankhaftes Übergewicht eigentlich immer einen Grund hat, sei es nun eine Stoffwechselstörung, hormonelles Ungleichgewicht, Medikamenteneinnahme oder aber auch eine psychische Erkrankung, aber der einfachste Grund, der einem sofort einfällt, ist der, dass die Person sich einfach nicht unter Kontrolle hat, zu faul ist, etwas für ihren Körper zu tun.
Diese weitverbreitete Einstellung kennt auch Roxane Gay, hat sie immer wieder am eigenen Leib erfahren.

“Was sagt es über uns und unsere Kultur aus, wenn der Wunsch nach Gewichtsabnahme als grundlegendes weibliches Attribut gilt?”

Roxane Gay, Hunger, S. 145

Doch statt einfach nur das heutige Schönheitsideal zu kritisieren, erzählt die Autorin ihre ganz persönliche Geschichte. Und diese geht wirklich unter die Haut.
Sie erzählt, wie es dazu kam, dass sie immer mehr Gewicht zunahm und wie ihre Körpermaße bis heute ihren gesamten Alltag beeinflussen. Sie berichtet von schwierigen Situationen, über die man als normalgewichtiger Mensch niemals nachdenken würde und schafft somit eine ganz andere Sicht, ein ganz besonderes Verständnis.


Es fing alles damit an, dass sie mit zwölf Jahren von einer Gruppe Jugendlicher vergewaltigt wurde. Daraufhin fing sie an zu essen. Essen bedeutete Trost und ihr immer weiter steigendes Körpergewicht wurde für sie zu einer Art Schutz. Sie fühlte sich dadurch größer und weniger verletzlich. Trotz des Wissens, dass ihr Körpergewicht ungesunde Ausmaße annahm und mehrfachen Diätversuchen, blieb das Übergewicht und das Gefühl von Trost und die Sicherheit, die ihr das Essen verschafften. Sie erzählt von der Scham, davon, sich wertlos zu fühlen, immer wieder ungesunde Beziehungen einzugehen, sich nach Liebe und Anerkennung zu sehnen und wie stattdessen immer wieder neue Verletzungen hinzukamen. Emotionale Verletzungen durch Personen, die ihr nahestehen, aber besonders durch eine Gesellschaft, in der es einfach kein Verständnis, keinen Platz für Menschen mit starkem Übergewicht gibt. Trotz allem verliert sie nicht den Mut und die Entschlossenheit, sich selbst zu lieben. Schon früh findet sie eine Zuflucht im Schreiben, eine Möglichkeit ihre innersten Gefühle in Worte zu fassen und auszudrücken. Sie macht Karriere, ist mittlerweile eine bekannte feministischen Autorin und nutzt ihre Stimme. Dennoch bleiben die Verletzungen.

” Je erfolgreicher ich werde, desto öfter werde ich daran erinnert, dass ich für viele Menschen niemals mehr sein werde als mein Körper.”

Roxane Gay, Hunger, S. 277

Roxane Gay hat einen sehr eindringlichen, fast schon pathetischen Schreibstil, der mir nicht immer gut gefällt, da es auch immer wieder Wiederholungen gibt, die eine Aussage verdeutlichen sollen. Manchmal ist mir das einfach etwas zu viel.
Dann wiederum berichtet sie plötzlich ganz nüchtern und ruhig von Erlebnissen und zeigt damit die Alltäglichkeit dieser oftmals verachtenden, abwertenden und herablassenden Reaktionen ihrer Mitmenschen auf ihr Übergewicht. Sie erzählt von Lehrerinnen, die sie watschelnderweise nachmachten, von Stühlen, in die sie bei Lesungen nicht passte und Bühnen ohne Treppe, auf die sie nicht klettern konnte, von Blicken im Fitnessstudio und ungefragten Ernährungstipps im Supermarkt, aber auch von der Darstellung von Frauen in den Medien. Diese Erfahrungsberichte sind es, die mich sehr bewegt und zum Nachdenken angeregt haben. Es geht in diesem Buch nicht darum, starkes Übergewicht zu verherrlichen oder auf Teufel komm raus Body Positivity zu verbreiten. Es ist nicht so leicht, den eigenen Körper zu lieben, wie es in dieser Bewegung gerne dargestellt wird. Man spürt den Kampf der Autorin. Sie ist sich sehr wohl bewusst, dass ihre Lebensweise nicht gesund ist und sie wünscht sich auch, dünner zu sein, aus verschiedensten Gründen. Sie probiert verschiedenste Diäten aus. Und dennoch scheitern ihre Abnehmversuche immer wieder, weil es eben einfach nicht so leicht ist mit ihren Erfahrungen und ab einem gewissen Gewicht. Und auch das schildert sie sehr authentisch.
Sie gibt ehrlich zu, dass sie darunter leidet und versucht sich trotz ihrer äußeren Erscheinung zu lieben. Sie erklärt, dass es nicht so leicht ist, etwas daran zu ändern, schafft durch das Teilen ihrer Erfahrungen beim Leser ein tieferes Verständnis dafür und zeigt damit, wie ungerecht und wertend mit Übergewicht umgegangen wird und wie sehr wir uns trotz aller Behauptungen von nicht hinterfragten Äußerlichkeiten beeinflussen lassen.
Auch wenn ihr Körper, ihr Hunger, das zentrale Thema dieses Buches sind, schreibt sie darüberhinaus sehr eindrücklich darüber, wie es ist, mit traumatischen Erfahrungen zu leben, damit umzugehen, wie diese einen in allen Lebensbereichen beeinflussen. Sie macht deutlich, dass ihr Körper nicht das eigentliche Problem ist, sondern ihre Erlebnisse, ihre Erfahrungen. Sie möchte es schaffen, damit Leben zu können und sich selbst zu lieben.
Insgesamt ist dieses Buch für mich eins: sehr ehrlich.

“Intellektuell setze ich Dünnsein nicht mit Glücklichsein gleich. Ich könnte morgen dünn aufwachen und immer noch das Gewicht mit mir herumschleppen.”

Roxane Gay, Hunger, S. 313

Fazit

Hunger ist die Geschichte einer Frau, die Schreckliches erlebt hat und tief verletzt wurde, die ihren Trost im Essen findet und damit auf weitere Schwierigkeiten und emotionale Verletzungen stößt in einer Gesellschaft, deren Werte immer noch auf Äußerlichkeiten beruhen. Es ist aber auch die Geschichte einer starken Frau, die trotz aller Widrigkeiten ihren Mut nicht verliert, immer weiter versucht, eine positive Beziehung zu ihrem Körper aufzubauen, Karriere macht und ihre Stimme nutzt. In diesem autobiografischen Buch erzählt Roxane Gay auf schonungslos ehrliche Art und Weise ihre ganz persönliche Geschichte und hält einer Gesellschaft, die von sich behauptet, vorurteilsfrei auf Äußerlichkeiten zu reagieren und die inneren Werte hervorzuheben einen Spiegel vor. Es ist ein Appell: Verurteile niemanden, dessen ganze Geschichte du nicht kennst. Jeder Mensch hat eine Geschichte, genauso, wie jeder Körper eine Geschichte hat.

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Titel: Hunger
Autorin: Roxane Gay
Übersetzung: Anne Spielmann
Verlag: btb
erschienen am: 22. April 2019
Seitenzahl: 320
ISBN: 978-3442758142

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