Rezension: “The Girls” – Emma Cline
“We all want to be seen.” (The Girls – Emma Cline)
Titel: “The Girls”
(Die Rezension bezieht sich auf die englische Ausgabe!)
Autorin: Emma Cline
Verlag: Random House (2016)
Seitenzahl: 355
Preis (Taschenbuch): 8,99€
ISBN: 978-0399591747 – Hier geht’s zum Buch!
In Deutschland erschienen bei: Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG (2016)
Preis (gebundene Ausgbabe): 22,90€
ISBN: 978-3446252684 – Hier geht’s zum Buch!
Der erste Eindruck:
Die Story:
Die Charaktere:
Die Erzähltechnik:
Der Schreibstil:
Die Aussage:
Titel und Cover:
Mein Fazit: 4,7 Sterne!
Die Story
Grob zusammengefasst fiktionalisiert Emma Clines Roman “The Girls” in leicht abgewandelter Form die Geschichte der Hippie-Kommunen-Sekte “The Manson Family”, die dafür bekannt wurde, im Sommer 1969 einige grausame Morde in Kalifornien verübt zu haben.
Wer aber einen Psychothriller oder Ähnliches erwartet, liegt hier falsch!
Vielmehr ist es eine intensive, tragische und sehr feministisch angehauchte Coming-of-Age-Geschichte über ein junges Mädchen in den späten Sechzigern.
Protagonistin ist hier die 14-jährige Evie Boyd, die gelangweilt von den langen Sommertagen in ihrer wohlhabenden nordkalifornischen Heimat und getrieben durch ihr Verlangen nach Aufmerksamkeit offen für jede Art von Abwechslung und Anerkennung ist. Als sie dann im Park auf auf ein paar Mädchen aufmerksam wird, die einfach so anders als alle sind, denen Evie sonst so begegnet, ist dem Leser sofort klar, wohin das führen wird. Besonders zu der älteren und faszinierenden Suzanne fühlt sich Evie hingezogen und ist bereit, alles für ihre Aufmerksamkeit zu geben…
“I looked up because of the laughter; an kept looking because of the girls.
I noticed their hair first, long and uncombed. Then their jewelry catching the sun. The three of them were far enough away that I saw only the periphery of their features, but it didn’t matter – I knew they were different from everyone else in the parc […]
These long-haired girls seemed to glide above all that was happening around them, tragic and seperate. Like royalty in exile.” (S. 3)
So beginnt der Roman und ich war sofort in der Atmosphäre gefangen. Ich konnte die Leere und die Langeweile Evies spüren und konnte ihre Faszination von den Mädchen sehr gut nachvollziehen.
Evies Eltern haben sich gerade getrennt und der Vater ist mit seiner jüngeren Assistentin zusammengezogen. Gemeinsam mit ihrer Mutter bewohnt sie nun noch das große Familienhaus, dessen Bau nur durch das Geld ihrer Großmutter, einem ehemaligen Filmstar, möglich war. Weder von ihrem Vater, noch von ihrer Mutter, die anfängt, sich mit immer neuen Männern zu treffen, die eigentlich nur auf ihr Geld aus sind und gefühlt jeden Tag einen neuen Lifestyle- oder Diät-Trend der späten sechsziger Jahre ausbrobiert, bekommt sie viel Aufmerksamkeit. Das einzige Gefühl das ihr zuteil wird, ist, dass sie durchschnittlich ist und das sei die größte Enttäuschung. Sie sei weder hübsch, noch schlau genug:
“…there was no shine of greatness on me. I wasn’t pretty enough to get the grades I did, the scale not tipping heartily enough in the direction of looks or smarts.” (S. 35/36)
Und so verbringt sie die scheinbar endlosen Sommertage damit, mit ihrer besten Freundin Frauenzeitschriften durchzublättern, um herauszufinden, was sie tun, wie sie aussehen muss, um hoffentlich doch irgendwie Aufmerksamkeit zu erlangen.
“Wohlstandsverwahrlosung” ist ein Begriff, den ich schon häufiger in unterschiedlichen Zusammenhängen gelesen habe und der, wie ich finde, Evies Situation perfekt beschreibt.
Somit ist es auch kein Wunder, dass sie sich so einfach zu Suzanne und der Gruppe hingezogen fühlt. Erst spät wird Evie das klar:
“No one had ever looked at me before Suzanne, not really, so she had become my definition.” (S.348)
Bis ihr dies so bewusst wird geschieht einiges. Nach einem Streit mit ihrer Freundin Connie hat sie auf dem Nachhauseweg ein Fahrradpanne, als wie ein aufziehendes Unheil, der schwarze Bus der Gruppe auf sie zukommt. Die Mädchen im Bus, unter ihnen Suzanne, bieten ihr an, sie mitzunehmen und so kommt sie zum ersten mal auf die Ranch, die eigentlich unheimlich un heruntergekommen ist, auf Evie aber so exotisch und aufregend wirkt, dass sie den Ort am liebsten gar nicht mehr verlassen will. Und auch ich fühlte mich als Leser gleichzeitig abgestoßen und gefangen von der Atmosphäre.
Lagerfeuerstimmung, Drogen und die komplette Selbstaufgabe der Bewohner machen das Leben auf der Ranch aus und das alles unter der Anleitung des Anführers Russel. Er ist der typische Sekten-Guru, der genau weiß, wie er Evie ebenfalls in seinen Bann ziehen kann:
“‘There’s something in you’, he said. ‘Some part that’s real sad. And you know what? That really makes me sad. They’ve tried to ruin this beautiful, special girl. They’ve made her sad. Just because they are.’
I felt the press of tears.
‘But they didn’t ruin you, Evie. Cause here you are. Our special Evie. And you can let all that old shit float away.'”
Und so nimmt alles seinen Lauf. Evie verbringt immer mehr Zeit auf der Ranch, glaubt an die “größere Liebe”, die dort gepredigt wird und ist bereit alles dafür zu geben, Teil dieser Gruppe zu bleiben und ihre eigenen Gefühle hintenanzustellen. Alle Zweifel, die in ihr entstehen, wenn sie etwas sieht, das für sie nicht zu dieser Vorstellung passt, werden von ihr selbst im Keim erstickt. Als Russel z.B. ein Mädchen schlägt, sagt sie sich, dass dies bestimmt einen größeren Grund hat. Schnell hat auch sie Russel auf eine göttliche Ebene emporgehoben. Doch der hauptsächliche Grund, weshalb es sie immer wieder zur Ranch zurückzieht ist Suzanne. Die faszinierende junge Frau, die ihr endlich das Gefühl gibt, jemand zu sein, in der aber auch dunkle Abgründe lauern.
Obwohl der Rahmen der Handlung auf einer wahren Begebenheit beruht und somit nicht viel Fantasie bedurfte, schafft Emma Cline es meiner Meinung nach hier ein ganz besonderes Meisterwerk daraus zu basteln. Sie nutzt die grausame Geschichte, um anhand dessen die grausame Realität des Erwachsenwerdens eines jungen Mädchens in den Sechzigern zu beschreiben, in einer Welt, in der Mädchen entweder sehr schlau oder sehr hübsch sein müssen und in der sie sich nur durch ihre Wirkung auf vorwiegend männliche Mitmenschen definieren. Den minimalen Abzug gibt es für die Rahmenhandlung, in der Evie Boyd aus der heutigen Sicht als Frau mittleren Alters auf die Geschehnisse zurückblickt. Dieser Teil hätte für meinen Geschmack noch etwas mehr ausgebaut werden können. Ich hätte z.B. gerne gewusst, wie es ihr genau in der Zwischenzeit ergangen ist.
Die Charaktere
Die Charaktere sind in diesem Roman meiner Meinung nach sehr gut durchdacht und dargestellt. Vor allem die Protagonistin Evie finde ich sehr interessant. Ihre Zerrissenheit zwischen ihren beiden Leben ist unheimlich gut spürbar. Einerseits weiß sie, dass einiges falsch ist, was auf der Ranch so läuft, andererseits ist sie schon so davon vereinnahmt, dass sie es schafft, sich immer wieder selbst von ihren Zweifeln abzulenken. So sehr ist auf die Anerkennung und die Aufmerksamkeit besonders von Suzanne angewiesen.
Ich könnte nicht wirklich sagen, was Evie als Menschen ausmacht, aber genau, das ist es eben was sie ausmacht. Sie ist ein unsicheres junges Mädchen, das sich selbst noch gar nicht richtig kennt, das nur für die Aufmerksamkeit anderer lebt. Sie tut Dinge, um eine bestimmte Wirkung auf andere zu erzielen und deshalb ist sie auch so leicht beeinflussbar von einer Sekte, die darauf abzielt, das Ego der Anhänger auszuradieren. Endlich muss sie nicht mehr irgendwie sein, sondern gehört einfach dazu.
Auch über Suzanne erfahren wir an sich nicht viel, außer dass sie einen starken Eindruck auf Evie hinterlässt. Sie scheint irgendwie schön zu sein, wenn auch nicht hübsch im herkömmlichen Sinn. Wie alle Mädchen der Gruppe hat sie für Evie eine Ausstrahlung auf anderer Ebene.
Besonders bei Suzanne erkennt Evie aber auch schnell einen dunklen Abgrund, den sie nicht näher fassen kann, über den sie aber auch schnell wieder hinwegsieht, sobald Suzanne ihr wieder ihre Zuneigung zukommen lässt. Ich war mir selbst manchmal unsicher, ob Suzanne nicht vielleicht als einzige in der Lage war, das alles eher zu durchschauen. So bekam man manchmal das Gefühl, dass sie Evie schützen wollte, vor dem was da kam, auch wenn dies von ihr nicht so aufgefasst wurde. Das würde jedoch auch implizieren, dass sie bei ihren Taten zurechnungsfähiger als die anderen war. Etwas worauf der dunkle Abgrund den Evie manchmal in ihr zu erkennen glaubt, hindeutet?
Russel spielt eher hintergründig eine Rolle. Er ist zwar derjenige, der den Lauf der Geschichte lenkt, doch tatsächlich verführt, sich auf diese Gruppe einzulassen, wird Evie nicht von einem Guru sondern von Suzanne.
Besonders gut und sehr kontrastreich zu der Welt der Ranch dargestellt, finde ich auch Evies Mutter, die ebenfalls irgendwie auf Sinnsuche zu sein scheint und ihren Vater, der scheinbar sehr lieb, aber auch einfach mit seiner Vaterrolle überfordert zu sein scheint. Auch seine neue Freundin Tamar hinterlässt einen starken Eindruck auf Evie. Zuerst findet sie sie faszinierend, dann langweilig, da sie für sie zu der nach klaren Regeln lebenden Welt gehört, die Russel so verpönt, dann wieder interessant und sympathisch, da sie merkt, dass auch bei ihr mehr hinter der Fassade steckt. Daran wie die einzelnen Figuren auf Evie wirken, wird auch ihre Entwicklung deutlich. Die Zeit auf der Ranch versetzt sie plötzlich in die Lage andere zu beurteilen, statt immer nur das Gefühl zu haben, selbst beurteilt zu werden.
Die Erzähltechnik
…bekommt von mir auch einen halben Stern Abzug, da ich wie gesagt, die Rahmengeschichte nicht ausgefeilt genug fand. In dieser trifft Evie auf ein junges Mädchen, auf das sie ihre Gefühle von damals überträgt. Das hat mir eigentlich gut gefallen, da es die Problematik nochmal verdeutlicht und auch auf die heutige Zeit überträgt, doch fehlen mir wie schon beschrieben ein paar Punkte.
Interessant ist durch diese rückblickende Erzählung, dass die Geschichte immer wieder mit Vorahnungen gespickt ist, die Evie aus ihrer heutigen Sicht erkennt. Das verleiht dem Ganzen unheimlich viel Spannung.
Der Schreibstil
Den Schreibstil finde ich sehr schön und atmosphärisch. Man hat tatsächlich das Gefühl bekommen, dass zwei Parallelwelten existieren, in denen sich Evie abwechselnd aufhält. Die der Ranch und die andere Welt. Sobald die Gruppe irgendwie in der richtigen Welt auftaucht, waren sie irgendwie ein Störfaktor, als der sie ja auch tatsächlich wahrgenommen wurden, auch schon bevor es zu den Gewaltverbrechen kam.
Die Aussage
…lässt sich wie ich finde sehr gut mit einem Zitat zusammenfassen, das mir stark in Erinnerung geblieben ist:
“I waited to be told, what was good about me.
I wondered later if this was why there were so many more women than men at the ranch. All that time I had spent readying myself, the articles that taught me life was just a waiting room until someone noticed you – the boys had spent that time becoming themselves.” (S. 28)
Es ist ein sehr feministisches Buch, das anklagt, wie sehr Mädchen in ihrer Entwicklung dadurch beeinflusst werden, dass sie immer wieder lernen, wie wichtig ihre Wirkung auf andere ist. Das es genau das sei, was sie ausmacht. Man könnte jetzt meinen, dass es sich besonders auf die Rolle der Frau in den späten Sechzigern bezieht, doch das wird dadurch etwas zurückgenommen, dass die Rahmenhandlung in der heutigen Zeit spielt und Evie dort auf ein Mädchen trifft, das ebenfalls in der Misere steckt, nicht genug Aufmerksamkeit von ihrem männlichen Begleiter zu erfahren, aber bereit ist, alles dafür zu tun.
Die Aussage geht sogar soweit, dass dieses Gefühl nicht richtig beachtet zu werden, der verzweifelte Wunsch gesagt zu bekommen, wer man ist und was man tun muss, um Anerkennung zu erfahren, Mädchen in die Fänge einer Sekte treiben kann, da diese genau damit arbeiten, dieses Verlangen zu stillen.
Für mich ist das eine großartige und erschreckend verpackte Aussage!
Titel und Cover
Der kurze und prägnante Titel gibt auf einfache Weise das Thema des Buches wieder. Es geht um “Mädchen”. Inhaltlich natürlich um die Mädchen der Sekte, die immer nur als “The Girls” zusammengefasst werden und die auf den medial-geschichtlich geprägten Begriff der Manson-Girls anspielen: diese schwer begreifbare Gruppe junger Mädchen, die bereit waren im Auftrag ihres Gurus zu morden.
Doch weiter gefasst spielt der Titel eben auch auf das eigentliche Thema des Buches an: Mädchen, junge Frauen und ihre Probleme bei der Identitätsfindung.
Das Cover gefällt mir durch die starken Farben nicht so gut, dennoch muss ich sagen, dass der durch die Sonnenbrille verborgene Blick der Frau ebenfalls gut zum Thema passt. Man wird von ihr beobachtet, vielleicht heimlich beurteilt…
Fazit
Ich halte “The Girls” für einen sehr gelungenen Coming-of-Age-Roman mit einer spannenden Handlung. Durch Evies Geschichte wird sehr gut verdeutlicht, welche Gefahren dadurch entstehen können, dass junge Frauen irgendwie durch die Gesellschaft beigebracht bekommen, sich über die Meinung anderer zu definieren. Durch die Rahmengeschichte über die grausamen Manson-Morde wird das Ganze unheimlich und spannend verpackt, sodass die Kritik für mich gefühlt nicht wie so oft mit erhobenem Zeigefinger sondern eher unterschwellig daherkommt.
Auch werden in dieser Problematik nicht die Männer hauptsächlich verantwortlich gemacht, obwohl Russel, die Sekte überhaupt erst geschaffen hat und auch die Morde in Auftrag gibt.
Denn es sind hier die anderen jungen Frauen, von denen Evie Aufmerksamkeit will. Frauen die wie sie hoffen gesagt zu bekommen, wer sie sein sollen oder was gut an ihnen ist und somit dafür sorgen, dass eine solche Sekte überhaupt erst existieren kann.
Suzanne ist es, die sie dazu verführt, immer wieder auf die Ranch zurückzukehren. Das zeigt, dass es sich dabei auch um ein Problem von Frauen untereinander handelt nicht nur in ihrer Beziehung zu Männern. Das macht die Aussage meiner Meinung nach auch heute noch sehr viel relevanter!
Ich kann dieses Buch wirklich jedem empfehlen, für mich war es ein weiteres Lesehighlight dieses Jahr! 4,7 Sterne!!
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