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[Rezension] “Mein Ein und Alles” von Gabriel Tallent

Angetan vom schönen Cover und einem Klappentext, der so etwas ganz anderes verspricht, als der Titel zunächst vermuten lässt, entschied ich mich, mich an dieses Romandebüt heranzuwagen, das bereits erschienenen Buchbesprechungen nach, die Leserschaft zu spalten scheint.
Auch ich musste schnell erkennen, dass dieses Buch wohl niemanden unberührt lässt: entweder man ist vom Thema so schockiert und abgestoßen, dass man es nicht ertragen kann das Buch weiterzulesen oder einfach nur mitgerissen und zutiefst vom Stil und vor allem der Protagonistin beeindruckt…oder auch beides zugleich. Das Einzige was von diesem Buch wohl nicht behauptet werden kann, ist, dass es einen kaltlässt.

And dieser Stelle möchte ich dem Penguin Verlag für die Bereitstellung des Rezensionsexemplars danken!

Worum geht’s?

Die 14-jährige Julia Alveston, genannt “Turtle”, wächst sehr abgeschieden in den nordkalifornischen Wäldern bei ihrem Vater auf. Außer ihm und ihrem Großvater hat sie kaum soziale Kontakte, obwohl sie – hauptsächlich jedoch, um das Jugendamt nicht auf sie aufmerksam zu machen – zur Schule geht. Ihr Vater Martin erzieht sie mit einer unglaublichen Härte was er damit begründet, sie auf die schonungslose Welt und vor allem das seiner Meinung nach drohende Weltende vorbereiten zu müssen. Wenn Turtle sich mit etwas richtig gut auskennt, dann sind es Waffen. Täglich wird sie von ihrem Vater zu Schießübungen aufgefordert und legt besonderen Wert auf die sorgsame Reinigung ihrer Waffen. Trotz Martins endloser Liebe zu seiner Tochter, die er zumindest immer wieder beteuert, sind emotionale, seelische und physische Misshandlungen an der Tagesordnung.
Nur bei ihren langen Streifzügen durch die Wälder, in denen sie sich bestens auskennt, kann Turtle hin und wieder Abstand zu ihrem besitzergreifenden Vater gewinnen. Bei einem dieser Spaziergänge lernt sie Jacob kennen, einen Jungen, der ihr zeigt, dass menschliches Miteinander auch anders funktionieren kann, dass Freundschaft und Liebe nicht mit Gewalt verbunden sein müssen. Langsam beginnt Turtle, ihre Beziehung zu ihrem Vater in Frage zu stellen und sich abzuwenden. Doch Martin will sie nicht loslassen.

Meine Meinung

Turtle Alveston ist eine Protagonistin, die den Leser einfach mitreißt auf ihrer grausamen und schockierenden, aber auch hoffnungsvollen Reise: Sie ist mutig, stark, auf eine unkonventionelle Art klug, aber auch sehr zerbrochen und verstört.
Sie kennt nichts anderes als die zerstörerische und besitzergreifende Liebe ihres Vaters, die stets mit Gewalt und sexuellenÜbergriffen verbunden ist. Trotz seiner oft kalten Brutalität liebt sie ihren Vater und verzehrt sich geradezu nach seiner Liebe. Sie denkt, das sei normal und gut so. Sie sind für den jeweils anderen das Einzige, was zählt, eben ihr Ein und Alles. Liebe und Hass liegen in dieser Beziehung untrennbar nah zusammen und werden dem Leser schonungslos durch schockierende Szenen und Turtles innere Zerrissenheit deutlich gemacht.

Der Schreibstil unterstreicht dieses fast unerträgliche Thema mit seiner eindrücklichen Klarheit. Dieser Stil, der bei der Landschaft zu detailreichen Beschreibungen der Vegetation und der nordkalifornischen Steilküsten führt, ist bei der Beschreibung der Vater-Tochter-Beziehung kaum zu ertragen.
Man leidet mit Turtle mit, erkennt ihre Zerrissenheit, man fühlt sich in diese so heruntergekommene Hütte, die sie ihr Zuhause nennt, versetzt, man folgt Turtle durch die endlosen Wälder, auf Spaziergängen, die einen als Leser zeitgleich mit der Protagonistin endlich einmal durchatmen lassen. Knallharte Dialoge, und Turtles Gedanken, in denen kein Blatt vor den Mund genommen wird, machen einem dann wiederum den Schrecken deutlich, in dem dieses Mädchen aufwächst.

Martin, groß, breitschultrig und wortgewandt, wechselt von einem Moment auf den anderen vom fast fürsorglichen Vater zum misogynen, gewalttätigen Peiniger, sodass man schon nach kurzer Zeit Turtles Misstrauen und ständige Vorsicht in sich aufgenommen hat. Er will wie er sagt, dass Turtle ein besseres Leben hat, zeitgleich lässt er sie nicht für sich entscheiden, wie dieses Leben auszusehen hat, er sagt ihr, dass sie alles erreichen kann und zeitgleich ist nie etwas, das sie tut, gut genug. Er sagt ihr, wie wunderschön sie ist und misshandelt sie im nächsten Moment. Er beschränkt ihr Wesen auf ihre Weiblichkeit, die er verachtet und vergewaltigt sie, weil er ihr nicht widerstehen kann. Das Ganze resultiert in Turtles ausuferndem Selbsthass. Sie nimmt ihn in Schutz und gibt sich selbst die Schuld an seinen Gewalteskapaden. Ein psychologisches Phänomen.

Erst als sie Jacob trifft, der sie für ihre Wildheit und ihre Andersartigkeit bewundert und ihre abwehrende Haltung hinnimmt ohne sie zu bedrängen, merkt Turtle, dass ihr Leben nicht so sein muss. Die Angst vor ihrem Vater sowie die Ungewissheit, wie ein Leben außerhalb seiner Mauern aussieht, lassen sie jedoch immer wieder einknicken. Dennoch merkt der Leser, dass es Hoffnung für dieses wundersame Mädchen gibt und spätestens ab dem Punkt konnte ich das Buch nicht mehr aus der Hand legen.

Sowohl der Schreibstil als auch vor allem das Thema dieses Romans sind nichts für schwache Nerven, sodass ich verstehen kann, dass einige dieses Buch nicht mochten.
Doch alleine wegen dieser einzigarten Protagonistin lohnt es sich meiner Meinung nach, das Buch zu lesen. Es ist schonungslos, aber ähnliche Lebensumstände sind für viele Kinder Realität und ich finde, dass an Turtles Gefühlen und ihren Problemen sehr gut deutlich wird, was das mit ihnen macht und dass es für eben sie nicht so einfach ist, sich gegen ihre Eltern zu stellen. Auf psychologischer Ebene ist das Buch somit sehr spannend.

Wer bereit ist, sich diesem durchaus ungemütlichen Thema zu stellen, dem gebe ich eine klare Leseempfehlung. Es ist ein Buch über Extreme, über gegensätzliche Gefühle, die für die Protagonistin auf so grausame und schockierende Weise miteinander verbunden sind, dass sie auch den Leser emotional zu zerreißen drohen. Ein aufwühlendes Leseerlebnis!

Mich hat der Roman durch seine Atmosphäre und die Brutalität immer wieder an Winter’s Bone von Daniel Woodrell erinnert – einen Roman, den ich ebenfalls sehr empfehlen kann! Auch die Verfilmung mit Jennifer Lawrence halte ich für sehr gelungen.

Werbung // Angaben zum Buch

Rezensionsexemplar*


Titel: Mein Ein und Alles
Originaltitel: My absolute Darling
Autor: Gabriel Tallent
Übersetzung: Stephan Kleiner
Verlag: Penguin Verlag
erschienen am: 24.09.2018
Seiten: 480
ISBN: 978-3328600282
Preis (gebundenes Buch): 24,00€
Link zum Buch**

*Rezensionsexemplare erhalte ich im Austausch gegen meine ehrliche Meinung.
**Werbung wegen Verlinkung


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