[Rezension] “Corregidora” von Gayl Jones
Corregidora erschien erstmals 1975 in den USA. Damals wurde es von Toni Morrison veröffentlicht. Sie sagte über diesen Roman, der nun, fast 50 Jahre später von Pieke Biermann neu ins Deutsche übersetzt wurde, dass danach kein Roman über eine schwarze Frau mehr sein könne wie vorher.
Worum geht’s?
Der Roman beginnt im Jahr 1947 in Kentucky. Die Protagonisin Ursa singt in einer Bar jeden Abend den Blues. Sie singt von Schmerz und von dem Wunsch nach Freiheit. Die Männer hängen an ihren Lippen, haben das Gefühl, dass sie nur für sie singt.
Doch Ursas Gesang verleiht eigentlich ihrer traumatischen Familiengeschichte Ausdruck und ist an den Mann gerichtet, der diese prägte: Corregidora, dem portugiesischen Sklavenhalter in Brasilien, der sowohl ihr Großvater als auch ihr Urgroßvater ist.
Der Auftrag in ihrer Familie lautete stets “Generationen machen”, um die Erinnerung an die Gräueltaten weitergeben zu können, während die Täter alles daran setzen, jegliche Dokumente, die ihre Vergehen belegen, verschwinden zu lassen.
Als ein Streit mit ihrem Ehemann, in dem sie sich weigert, mit dem Singen aufzuhören, in Gewalt eskaliert, verliert Ursa nicht nur ihr ungeborenes Kind, sondern auch ihre Gebärmutter und damit die Möglichkeit ihrem verinnerlichten familiären Auftrag nachzukommen.
Der Roman handelt davon, wie sie nicht nur mit dem belastenden Familienerbe, sondern eben auch mit ihrer plötzlich veränderten Lebenssituation zurechtkommen muss, er handelt von Hass und Misogynie, aber auch von Sehnsucht, Verlangen und dem Streben nach Freiheit.
Meine Meinung
Ich muss gestehen, dass ich zunächst etwas gebraucht habe, um in den Roman hineinzufinden. Die Sprache ist sehr roh und Ursas Erlebnisse und Erinnerungen natürlich alles andere als schön.
Aber was erwartet man, wenn James Baldwin schon über das Buch sagte: “Die brutalste, ehrlichste und schmerzhafteste Offenbarung dessen, was in den Seelen Schwarzer Männer und Frauen passiert ist und passiert.”?
Ich habe mich weiter durchgequält, anders kann ich mein Leseerlebnis zu Beginn nicht beschreiben, aber irgendwann in den Rhythmus des Romans gefunden. Ja einen solchen hat er wirklich, auch wenn ich dies nicht hätte in Worte fassen können, bevor ich das wirklich hilfreiche Nachwort der Übersetzerin Pieke Biermann gelesen hatte. Es ist nämlich nicht nur so, dass Ursa Bluessängergin ist und daher diese Musikrichtung eine wesentliche Rolle in der Geschichte spielt sondern auch die Sprache des Romans weist immer wieder Blues-Elemente auf, was zunächst ungewohnt wirkt, aber auf Dauer eine teilweise hypnotische Wirkung hat.
Die Ablehnung, Abwertung und die Gewalt, die Ursa erfährt, ist brutal und nur schwer zu ertragen. Ebenso die Geschichten, die ihr so oft von ihrer Mutter, Großmutter und Urgroßmutter erzählt wurden, dass sie sich in ihr festgesetzt haben, wie eigene Erinnerungen.
Als Leser*in begleitet man Ursa ein Stück auf diesem harten, steinigen Weg, weg von der erdrückenden Last der Vergangenheit und dem vererbten Trauma und hin zu dem kleinen Bisschen fragiler Selbstbehauptung, die für eine schwarze Frau in dieser Zeit möglich war.
Es war nicht schön dieses Buch zu lesen, ja, teilweise nur schwer zu ertragen. Doch es erzählt nunmal eine Geschichte, die leider genau so viel zu oft passiert ist und ist daher auch von enormen gesellschaftlichen und historischem Wert.
Ich bin erstaunt, dass der Roman so lange in Vergessenheit geraten ist. Auch der künstlerische Aspekt ist bemerkenswert. Die Übersetzung muss eine große Herausforderung gewesen sein, wie Pieke Biermann im Nachwort auch erklärt, da man nicht nur die rohe Umgangssprache dieser Zeit in eine heute angemessene Sprache, die weder rassistische Begriffe reproduziert noch sich zu weit vom Original entfernt und somit auch der Aussage nicht mehr gerecht wird, übertragen muss, sondern eben auch die Stilmittel und vor allem den Blues sinnvoll und vor allem wirkungsvoll zu übersetzen.
Der Roman hat mich insgesamt etwas verwirrt zurückgelassen. Es wird nicht nur stringent Ursas Erleben aus ihrer Sicht beschrieben, sondern es setzen sich auch immer wieder Erinnerungsfetzen durch. Nicht nur ihre eigenen, sondern auch die von ihrer Mutter, Groß- und Urgroßmutter übernommenen. Es gibt Zeitsprünge, die mir nicht immer ganz klar waren und einen längeren Abschnitt, in dem ihre Mutter ihr von ihrer bis dahin verschwiegenen Geschichte erzählt. Ich muss zugeben, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich alles immer richtig verstanden habe. Für Vieles war jedoch das Nachwort hilfreich.
Es fällt mir schwer, eine allgemeine Leseempfehlung aussprechen, da das Buch wirklich nicht leicht ist. Mann muss wissen, worauf man sich einlässt. Es geht um Sklaverei, Rassismus, um (sexuelle) Gewalt an Frauen, Misogynie und Trauma. Sprachlich ist es allerdings, wenn man sich auf die teils sehr groben Dialoge und derbe Sprache einlassen kann und den geschriebenen Blues auf sich wirken lässt, ziemlich beeindruckend. Und ja, vor allem ist es wichtig, dass niemals vergessen wird, was für schreckliche Dinge schwarzen Menschen angetan wurde und angetan wird. Die Protagonistin Ursa findet einen Ausdruck dafür in ihrer Musik und Gayl Jones in ihren geschriebenen Worten. Umso wichtiger ist es, dass dieser Roman nicht vergessen wurde, sondern erst vor wenigen Jahren auf Englisch neu veröffentlicht und nun auch ins Deutsche übersetzt wurde. Vielleicht kann er nun zu dem Klassiker werden, der er längst sein sollte.
Vielen Dank für das Rezensionsexemplar an den Kanon-Verlag!
Anzeige// Angaben zum Buch
Titel: Corregidora
Autorin: Gayl Jones
Übersetzung: Pieke Biermann
Verlag: Kanon Verlag
erschienen am 17.08.2022
Seiten: 220
ISBN: 978-3-98568-039-9
Preis (gebunden): 23,00€
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