[Rezension] “Diese eine Entscheidung” – Karine Tuil
Zum Inhalt
Alma Revel ist Untersuchungsrichterin in der Abteilung für Terrorismusabwehr im Pariser Justizpalast: sie verhört Terrorverdächtige, sichtet und beurteilt Beweismaterial, befragt Angehörige der Verdächtigen und Täter, spricht mit den Angehörigen der Opfer und entscheidet letztendlich darüber, ob ein Terrorverdächtiger festgesetzt oder freigelassen wird. Sie muss also regelmäßig Entscheidungen treffen, die wahrscheinlich die wenigsten treffen wollen.
Nun steht ihre Beurteilung im Fall eines jungen Mannes an, der mit seiner Frau nach Syrien aufbrach, um dort – wie er felsenfest behauptet – „humanitäre Hilfe zu leisten“. Dort wurden die beiden getrennt und merken daraufhin angeblich schnell, dass es dort alles ganz anders sei, als sie sich das vorgestellt hätten und sie damit nichts zu tun haben wollten. Sie kehren also nach Frankreich zurück, wo er sofort wegen Terrorverdachts in Untersuchungshaft kommt. Ist er eine Gefahr?
Kann man der Aussage eines Menschen, der extra nach Syrien ging, um sich dem IS anzuschließen, trauen, wenn er sagt, dass er nichts von dessen wahren Machenschaften gewusst habe und niemals eine Gewalttat verüben könne?
Ein Gefängnisaufenthalt würde andererseits nicht nur seine Familie zerstören und diesem jungen Menschen das Leben verbauen, sondern birgt natürlich das Risiko, dass er in Haft erst recht radikalisiert wird. All das sind Fragen, mit denen Alma sich intensiv auseinandersetzen muss, Argumente, die sie gegeneinander abwägen muss, um am Ende mit voller Überzeugung ein Urteil fällen zu können, das womöglich weitreichende und schreckliche Auswirkungen haben könnte.
Dieser belastenden Situation ist sie ausgesetzt, während zudem auch noch ihre Ehe den Bach runter geht und sie eine Affäre beginnt, die zusätzlich ihre Urteilskraft in diesem heiklen Fall beeinträchtigen könnte
Meine Meinung
Ein Roman, der sich liest wie ein Krimi: spannend von der ersten bis zur letzten Seite.
Als LeserIn wird man wird man sofort zu Beginn mit einer Szene konfrontiert, in der Alma offenbar diesmal als Angehörige mit Videobeweismaterial konfrontiert werden soll, während ihre Kollegen sie davon abhalten wollen, sich das anzutun.
Bevor sie es jedoch zu sehen bekommt, spring die Geschichte zurück zur Befragung eines Terrorverdächtigen.
Man weiß also, dass etwas Schlimmes geschehen wird und diese ungute Vorahnung begleitet einen durch die Geschichte. Die eigentliche Storyline, in der wir Alma durch ihren aufgewühlten Alltag begleiten, wird immer wieder von Ausschnitten aus Verhören oder aus Beweismaterial unterbrochen.
Was das Buch für mich besonders interessant macht, ist, dass es ein Thema aufgreift, von dem ich bisher wenig gelesen habe und das wahrscheinlich eine intensive Recherche notwendig gemacht hat. Ich persönlich habe mich nie groß damit auseinandergesetzt, was wohl mit den sogenannten Syrien-Rückkehrern passiert. Von den Tätern erfährt man meist erst, wenn bereits ein Anschlag verübt wurde und dann nachträglich die Persönlichkeit und die Vergangenheit der Terroristen in Dokumentationen und Reportagen beleuchtet wird…
Welche Zwickmühlen ergeben sich in dieser hochanspruchsvollen Arbeit der Ermittlungsrichter, wie werden Menschen radikalisiert, wie arbeiten Terrornetzwerke und vor allem, wie kann man solche Entscheidungen treffen, wenn man doch selbst nur ein Mensch ist, der Fehler macht, der beeinflussbar ist und der nie die ganze Wahrheit kennen kann – das sind Dinge, auf die Karine Tuil hier mal intensiver, mal oberflächlicher eingeht.
„Diese eine Entscheidung“ ist eine hochaktuelle Geschichte, die die Anschläge auf Charlie Hebdo und die Anschläge am Pariser Stadion und im Bataclan 2015 als Aufhänger nimmt.
Mein einziger Kritikpunkt ist an dieser Stelle, dass es mir manchmal so vorkam, als wäre der Spannungsaufbau, das hauptsächliche Ziel gewesen. Durch die etwas reißerische Erzählweise, hatte ich als Leserin das Gefühl, dass sich Almas Zweifel und ihre moralische Zerrissenheit, nicht wirklich auf mich übertragen, dass ich mich nicht mit der für solche Romane eigentlich typische „Wie würde ich handeln?“-Frage beschäftigen muss. Zumindest nicht in diesem besonderen Fall. Denn durch den Erzählungsaufbau soll man scheinbar relativ schnell zu einem bestimmten Schluss kommen, der die Spannung anheizt. Hier hätte ich mir einen etwas sensibleren Umgang mit dem Thema gewünscht, der mehr auf die Facetten dieser Problematik eingeht.
Die Anlehnung an wahre Fälle, das Beleuchten der moralischen Verstrickungen im Rahmen eines Prozesses, das ist etwas, das die Autorin, die selbst Juristin ist, offensichtlich gerne macht. Und sie überzeugt mich bisher damit.
In ihrem letzten Buch „Menschliche Dinge“, das mich dazu gebracht hat, auch sofort diesen neuen Roman lesen zu müssen, ging es nämlich um einen Vergewaltigungsfall, in dem es Aussage gegen Aussage steht, der offenbar an den sogenannten „Fall Standford“ angelehnt war – auch diesen kann ich nur empfehlen!
Ich kann die Autorin zudem allen Fans der Romane von Jodie Picoult ans Herz legen, an die ich mich während des Lesens immer wieder erinnert fühlte.
Vielen Dank an den dtv-Verlag für die Bereitstellung des Rezensionsexemplars!
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Titel: Diese eine Entscheidung
Autorin: Karine Tuil
Übersetzung: Maja Ueberle-Pfaff
Verlag: dtv
erschienen am: 21. September 2022
Seiten: 352
ISBN: 978-3-423-29036-4
Preis (gebunden): 23,00€
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