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[Rezension] Die Vergessenen von Ellen Sandberg

Dieses Buch ist keine leichte Kost und dennoch spannend und mitreißend. Es regt zum Nachdenken und zur Selbstreflexion an: Wie würde ich in einer solchen Situation handeln? Das fragt man sich immer wieder. Doch dieses Thema, welches im ganzen Grauen, das das dritte Reich mit sich brachte und vor allem in der heutigen Diskussion, meist eher eine untergeordnete Rolle spielt, über welches viel zu selten gesprochen wird, ist hier in einem spannenden Roman verpackt, der es einem kaum möglich macht, ihn zwischendurch mal aus der Hand zu legen und mit der Frage nach Gerechtigkeit, nicht selten ein wütendes Gefühl im Bauch hinterlässt.

Worum geht’s?

Vera Mändler ist Journalistin, doch die Zeiten, in denen sie interessante Beiträge über politische Themen verfasst hat, sind lange vorbei. Seit einigen Jahren fristet sie ein eher unzufriedenes Dasein in der Redaktion einer Frauenzeitschrift, in der sie über die besten Diättipps und Modefragen für Frauen ab 50 philosophieren darf. Aber als Journalistin in der heutigen Zeit darf man nicht wählerisch sein, vor allem nicht, wenn einem der Posten der Chefredakteurin, der mit einem für die Branche sehr seltenen Maß an finanzieller Absicherung verbunden ist, angeboten wird. Damit würde sie ihren Traum vom investigativen Journalismus und den wirklich wichtigen Themen jedoch endgültig begraben. Die Entscheidung wird ihr erneut erschwert als sie durch Zufall erfährt, dass ihre Tante Kathrin, die für sie immer wie eine Mutter war und die nun nach einem Schlaganfall im Koma liegt, offenbar während des dritten Reichs als Krankenschwester in einer Heil- und Pflegeanstalt angestellt war, die im Zuge der Aufdeckung der Euthanasiemorde, bekannt wurde. Offenbar gibt es Beweise, die sich im Besitz ihrer Tante befinden. War sie womöglich involviert? Oder hat sie Widerstand geleistet?

Manolis Lefteris ist ein Mann für besondere Aufträge. Als er den Auftrag erhält, Akten, die sich im Besitz einer alten Dame befinden, aufzustöbern und an seinen Auftraggeber zu übergeben, hält er das zunächst für reine Routine. Doch je näher er den Akten kommt, desto mehr bekommt er das Gefühl, dass diese Akten von sehr viel größerer Bedeutung sein könnten als das, womit er es sonst zu tun hat. Vor allem berührt das Thema einen wunden Punkt in der Vergangenheit seiner eigenen Familie. Aber er ist ja ein Profi und kann seine eigenen Gefühle klar von der Arbeit trennen, oder?

“Mit dieser Begründung müssten die Richter jeden fanatischen Attentäter laufen lassen. Sobald man nur verblendet genug war, durfte man ungestraft morden, massakrieren und Menschen abschlachten.” (S. 233)

Meine Meinung

Die Geschichte wird zunächst aus drei verschiedenen Perspektiven erzählt.

Da ist Vera, eine Journalistin, die bei einer Frauenzeitschrift arbeitet und befürchtet, nie wieder über wirklich interessante Themen schreiben zu können. Als sie die Wohnung ihrer Tante aufräumen möchte, die nach einem Schlaganfall im Koma liegt, stößt sie auf ein Bild, das ihre Tante in Krankenschwesternkleidung vor der Heil- und Pflegeanstalt Winkelberg zeigt. Warum weiß aus der Familie niemand, dass sie dort gearbeitet hat und was hat ihr Cousin, der immer pleite ist, außer dem Sparbuch sonst noch in ihrer Wohnung gesucht, mit dem er etwas gegen jemanden in der Hand habe, wie eine Nachbarin in einem Gespräch zwischen ihm und ihrer Tante mitgehört haben will? Vera wird neugierig und schnell fündig…hat ihre Tante tatsächlich etwas mit den Morden an Kranken und behinderten Menschen während des Nationalsozialismus zu tun gehabt?

Zeitgleich versucht Manolis Lefteris, der häufig besondere Aufträge für einen Anwalt übernimmt, an Akten zu gelangen, die einen Mandanten schwer belasten könnten. Er fragt nicht nach, worum es geht – das tut er nie. Doch je näher er den Beweisen kommt, desto mehr holen ihn seine eigenen Dämonen ein. Die Familie seines Vaters, einem Griechen, wurde während des zweiten Weltkriegs von deutschen Soldaten auf einem Rachefeldzug ermordet, was er als kleiner Junge mit ansehen musste. Diese Erinnerung hat er an seinen eigenen Sohn weitergegeben, bevor er selbst vollends daran zugrunde gegangen ist…Ein Trauma, das so Generationen überdauerte.

Während Vera und Manolis sich einen Wettlauf um die Beweise liefern, werden immer wieder Erinnerungsfetzen von Kathrin eingeblendet, die die Zeit von 1944 bis 1945 in Winkelberg zeigen. Sie fühlte sich damals, als habe sie ihren Platz im Leben gefunden und dann zeigt auch noch der Arzt Karl Landmann ein besonderes Interesse an ihr. Sie fühlt sich automatisch zu ihm hingezogen. Doch irgendwann merkt sie, worin Landmanns Arbeit wirklich besteht…

Kathrins Erinnerungen ergänzen für den Leser somit die Entdeckungen von Vera und Manolis immer wieder um das Quäntchen Wahrheit, das der Welt doch nach all der Zeit verborgen bleibt.

Der Roman ist unglaublich mitreißend geschrieben, was durch die schnellen Perspektivwechsel noch verstärkt wird. Der Schreibstil ist klar und flüssig.
Schon bei einem weniger brisanten Thema wäre alleine Manolis und Veras Wettlauf, an die Wahrheit zu kommen, Stoff für einen spannenden Thriller. Dieses Thema, welches einem immer wieder wütende Tränen in die Augen steigen lässt und die Frage aufwirft, wie so etwas geschehen konnte und noch viel mehr, warum nur so wenige jemals dafür zur Rechenschaft gezogen wurden, macht ihn dann auch noch philosophisch und politisch relevant. Die Frage der Gerechtigkeit steht durchgehend im Raum. Was ist Gerechtigkeit und wer legt diese fest, wer darf darüber urteilen. Für Manolis ist es ein wunder Punkt, der durch die Erinnerungen seines Vaters an ein Kriegsverbrechen, das nie gesühnt wurde, verursacht wurde und wodurch er sein Vertrauen in die Justiz verloren hat. Auch ein Grund dafür, dass er einen Job außerhalb der Regeln des Gesetzes ausführt.
Kathrin musste feststellen, wie falsch Gerechtigkeit ausgelegt werden kann, wenn Macht missbraucht wird, als sie erfährt, welches Schicksal die Kinder und kranken Menschen, die eigentlich ihrem Schutz unterstellt sind, in Winkelberg widerfahren soll. Kinder die vor Lebensfreude und Liebe nur so sprühen, aber für die Gesellschaft nach Auslegung der Nationalsozialisten keinen Wert darstellen, weil sie z.B. niemals arbeiten werden können.

Anders als der Klappentext zunächst vermuten lässt, spielt der mit Abstand größere Teil der Handlung in der heutigen Zeit, in der der Leser Manolis und Vera dabei verfolgt, wie sie versuchen den Geheimnissen von damals auf die Spur zu kommen. Dabei werden jedoch auch die Personen Vera und Manolis besonders beleuchtet: ihre Herkunft, ihre Grundsätze und Entscheidungen, ihre Lebensentwürfe. Dies spielt eine nicht unwesentliche Rolle in diesem Roman und gibt ihren Charakteren Tiefe.

Es gibt so viele Bücher, die die Verfolgung von Juden oder Widerständlern im Dritten Reich behandeln, doch, dass noch viel mehr Menschen Opfer dieses grauenhaften Systems wurden, bleibt häufig etwas im Hintergrund. Jeder, der nicht in das stolze deutsche Bild eines fleißigen und starken Bürgers passte, lebte in Gefahr. Darunter eben auch psychisch Kranke und Menschen mit Behinderung (ja sogar solche, die erst durch ihren Kriegsdienst traumatisiert oder dauerhaft körperlich eingeschränkt wurden und somit eben keinen “Wert” mehr für das deutsche Reich darstellten), Sinti und Roma sowie Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter und eben alle anderen, die nicht in die Ideologie der Nationalsozialisten passten oder sich auch einfach nur erdreisteten, anderer Meinung zu sein.
Besonders grausam an den Euthanasie-Morden ist vor allem auch der Verrat an den Familien der Betroffenen. Sie haben ihre Angehörigen, ihre Kinder, ihre Ehefrauen und Ehemännern mit Hoffnung auf Heilung in die Obhut sogenannter Heilanstalten gegeben, von denen eine besondere neue Therapie versprochen wurde, um dann irgendwann die Nachricht zu erhalten, dass der Patient an einer Lungenentzündung gestorben sei. Massenhafte Morde, die oft nie richtig aufgeklärt, deren Täter zum Großteil nie zur Rechenschaft gezogen wurden und die große Löcher in Familien rissen, die teilweise bis heute nicht richtig geklärt geschweige denn vergessen sind.
Gerade letzteres wird in diesem Roman besonders gut hervorgehoben, da es sich eben nicht, wie so oft um einen (rein) historischen Roman handelt. Es geht auch um das Hier und Jetzt. Die Ereignisse von damals haben Familien über Generationen bis heute verändert und es kann sie weiterhin verändern, wenn sich damit beschäftigt wird.
Es ist eben nicht nur ein “Vogelschiss” in der deutschen Geschichte, um  jüngste sprachliche Auswüchse eines gewissen AfD-Politikers zu zitieren. Gerade solche Aussagen zeigen, dass es das nicht ist. Es ist ein Thema, dass uns weiterhin bewusst sein muss. Es geht nicht darum, heute die Verbrechen eines Landes rückwärtsgerichtet zu bedauern und mit dem durchaus berechtigten moralischen Zeigefinger auf die Verbrecher von damals zu zeigen. Was geschehen ist, ist geschehen und das ist schlimm genug. Es geht vor allem darum, daraus zu lernen und zu verhindern, dass es so oder so ähnlich nochmal passieren könnte. Und es ist schon fast traurig, dass man das Gefühl hat, das immer wieder so erklären zu müssen.
Es ist wichtig, sich die Ereignisse von damals immer wieder in Erinnerung zu rufen. Das funktioniert durch Romane wie diese sehr viel besser, als durch Geschichtsbücher, da sie uns persönlich ansprechen, uns in die Rolle der Protagonisten schlüpfen lassen und uns somit zur Selbstreflexion zwingen.
Der Roman zeigt außerdem, dass man trotz jeder guten Vorsätze auch einfach nur Mensch bleibt und in manchen Situationen jede Moralvorstellung von Gerechtigkeit vergessen kann. Ein Thema, das meiner Meinung nach in zwei Punkten ein wenig zu unkritisch beziehungsweise oberflächlich behandelt wurde. Da wäre zum einen Manolis’ Job und seine ganze Einstellung, die stark von Selbstjustiz geprägt ist. Dieses Thema wird allerdings nur in kurzen Dialogen mit seiner Schwester, die natürlich nichts von seinem eigentlichen Job weiß sowie in seinen Monologen thematisiert, die natürlich recht einseitig sind.
Zudem hätte ich mir noch einen größeren Anteil von Kathrins Perspektive gewünscht, um ihr Verhalten und ihre Entscheidungen  in der Vergangenheit besser nachvollziehen zu können. Diese kommt meiner Meinung nach, neben der Handlung in der heutigen Zeit, die wie eine Mischung aus Familiensaga, Krimi und Agententhriller daherkommt, etwas zu kurz und ihre ganze Geschichte ließ mich etwas unzufrieden zurück, was wahrscheinlich aber so gewollt ist und auch andererseits die Besonderheit dieses Buches ausmacht.

Fazit

Ein spannender Roman, der die Geschichten zweier Familien erzählt, die unweigerlich mit der dunklen deutschen Vergangenheit verwoben sind. Temporeich, mitreißend und dennoch ungemütlich und nachdenklich stimmend. Die Autorin greift ein geschichtsträchtiges und grausames Thema auf und macht daraus einen rasanten Krimi, ein Gedanke, der mir erst einmal etwas sauer aufgestoßen ist, doch eigentlich ist es genau das Richtige! Sie verpackt ein wichtiges Thema einfach und spannend und kann somit viele Menschen erreichen und interessieren – etwas, das ein Geschichtsbuch oft nicht schafft. Sie beschönigt nichts, die Protagonisten stecken oft genug in moralischen Zwickmühlen, was oftmals ein bedrückendes Gefühl in der Magengegend hinterlässt, aber eben die Wirklichkeit darstellt. Ein Buch das zum nachdenken anregt, aber an manchen Stellen für meinen Geschmack noch ein bisschen kritischer hätte sein können.

 

Vielen Dank an das Blogger-Portal für die Bereitstellung des Rezensionsexemplars!

Titel: Die Vergessenen
Autorin: Ellen Sandberg (Inge Löhnig)
Verlag: Penguin Verlag (2018)
Seiten: 508
ISBN: 9783328100898
Preis (Taschenbuch): 13,00 €

Rezensionsexemplar*

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  • *Rezensionsexemplare erhalte ich im Tausch gegen meine ehrliche und unabhängige Meinung.
    **Diese Verlinkung kennzeichne ich als Werbung.

 

 

 

(c)Buchcover: Penguin Verlag
Beitragsbild: Ricarda Schneider

 

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3 Kommentare

  • Christin

    Ich hab das Buch auch gelesen und war etwas enttäuscht. Nicht von der Thematik oder gar der Recherche, sondern von Vera und Manolis aus. Vera … mit ihr bin so gar nicht warm geworden und hab mich immer über die Sprünge in die Vergangenheit gefreut und bei Manolis, da muss ich dir zustimmen, da wäre mehr Tiefe perfekt gewesen. Ein interessanter Charakter, der ausbaufähig ist :)

    • ricysreadingcorner

      Ich hätte auch gerne mehr Handlung in der Vergangenheit gehabt…Vor allem lässt der Klappentext ja zunächst vermuten, dass es vorwiegend darum geht. Vera, die einen Großteil der Handlung für sich beansprucht wird da gar nicht erwähnt.

      • Christin

        Jepp, mir wurde es auch im Rahmen der “Wider dem Vergessen” Aktion immer wieder ans Herz gelegt und bis dato hatte ich nur extremes Lob gehört. Schade, aber bei der Thematik bleib ich bei der Autorin am Ball :)

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