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[Rezension] “Unerhörte Stimmen” von Elif Shafak

So, ihr Lieben. Heute möchte ich euch ein persönliches Jahreshighlight vorstellen. Mehrfach hatte ich dieses Buch bereits in der Buchhandlung in der Hand und es zum Glück letztendlich einfach gekauft. Der Klappentext hatte mich von Anfang an fasziniert, doch da ich noch nie etwas von der Autorin gelesen hatte, war ich mir bei dem Umfang des Buches sowie dem Preis, für die gebundene Ausgabe zunächst unsicher. Aber es hat sich gelohnt und ich frage mich, warum ich Elif Shafak nicht viel früher entdeckt habe.

Worum geht’s?

Leila ist tot. Sie wurde ermordet. Doch in den Minuten nach ihrem Tod kehrt ihr Geist nocheinmal zu den Schlüsselmomenten ihres Lebens zurück. Erinnerungen an ihre schwierige Kindheit im Osten der Türkei drängen sich in ihr Bewusstsein, ebenso wie solche an ihre Flucht nach Istanbul, ihr Leben dort in der Straße der Bordelle, ihre große Liebe und an ihre engsten Freunde, die ihr am Rand der Gesellschaft halt gaben.

Meine Meinung

In den ersten Minuten nach ihrem Tod verebbte langsam aber stetig Tequila Leilas Bewusstsein, wie das Wasser, das von der Küste zurückwich […] Geschäftig drängte sich Leilas Gedächtnis vor und sammelte Bruchstücke eines Lebens, das auf ein Ende zuraste. Leila dachte an Dinge, die sie für immer verloren geglaubt hatte. […]
Das Erste, was ihr in den Sinn kam, war Salz – das Gefühl von Salz auf der Haut und der Geschmack von Salz auf der Zunge.

Unerhörte Stimmen, Elif Shafak, S. 23

Elif Shafak erzählt die Lebensgeschichte von Leila – Tequila Leila, einer Prostituierten in Istanbul. Leila wird Ende der Vierziger Jahre im Osten der Türkei geboren. Ihre Mutter ist die zweite Frau ihres Vaters, da die erste ihm keine Kinder schenken konnte. Dennoch soll Leila von seiner ersten Frau wie ihr eigenes Kind aufgezogen werden, während sie ihre richtige Mutter Tante nennen soll. Das zerstört die sowieso komplizierten Familienverhältnisse noch mehr und setzt vor allem ihrer leibliche Mutter zu. Ihr Vater hatte sich zudem eigentlich einen Sohn gewünscht und Leila wächst in dieser freudlosen Umgebung mit zwei Müttern, vielen unausgesprochenen Dingen, einem behinderten kleinen Bruder, einem dadurch verbitterten und religiös immer radikaleren Vater und einem übergriffigen Onkel auf, bis sie als junge Erwachsene aus Angst vor einer Zwangsheirat nach Istanbul flüchtet.
Istanbul – die schillernde Großstadt – ist für sie mit ihren größten Hoffnungen verbunden, die sich jedoch schnell als falsch herausstellen. Obwohl sie ein Leben am Rande der Gesellschaft führt, lernt sie Menschen kennen, deren Freundschaft kaum tiefer sein könnte. Auch die große Liebe findet sie. Doch Istanbul ist ständig im Fluss, ständig im Aufbruch und nichts ist von Dauer. Während Leilas Seele, diese Welt entgültig verlässt, geht das Leben ihrer fünf engsten Freunde, die unterschiedlicher nicht sein könnten, weiter. Doch Leila wird nicht vergessen, sondern ist ein Knotenpunkt in ihrer Mitte, eine kluge, optimistische und herzensgute Person, an die sie alle wiederum wunderbare Erinnerungen haben und sie machen sich auf, um ihr auf ungewöhnliche Weise einen letzten Gefallen zu tun.

In dieser Nacht war Istanbul äußerlich so hinreißend schön und zugleich innerlich so aufgewühlt wie eine Frau, die für eine Party zurechtgemacht war, auf die sie keine Lust mehr hatte.

Unerhörte Stimmen, Elif Shafak, S. 193

Dieser Roman ist eine Lebensgeschichte einer starken und interessanten Frau, aber auch ein Gesellschaftsroman, in dem man unglaublich viel über die Zerrissenheit der Türkei, die Kontraste zwischen den modernen, westlichen und den konservativen, religiös sehr verwurzelten Bevölkerungsteilen lernt. Istanbul wird in diesem Roman zu einer Metapher für diese Zerrissenheit und für den Lauf des Lebens. Immer wieder lassen sich in den Beschreibungen der oftmals personifizierten Stadt Parallelen zu Leilas Leben oder zu den historischen Ereignissen finden. Eine Stadt die laut und ständig in Bewegung ist. Zwar spielt, die Geschichte im letzten Jahrhundert, doch sie könnte kaum aktueller sein.

Im Licht der untergehenden Sonne färbte sich der Galata-Turm purpurrot und violett. Über sieben Hügel über tausend kleine und große Viertel und soweit das Auge reichte, erstreckte sich die Stadt, der einst prophezeit worden war, sie würde niemals erobert werden. In der ferne strömte der Bosporus und vermischte salziges und süßes Wasser so mühelos wie Traum und Wirklichkeit.

Unerhörte Stimmen, Elif Shafak, S. 323

Die wunderbare Sprache und der kluge Schreibstil, der ohne viel auszuschmücken tiefgründige Lebensweisheiten auf den Punkt bringt, hat dieses Buch für mich zu etwas ganz Besonderem gemacht. Ich konnte gar nicht aufhören, Textstellen zu markieren.

Dass du dich hier sicher fühlst, heißt nicht, dass du hier richtig bist, wandte das Herz ein. Dort, wo man sich am sichersten fühlt, gehört man manchmal am wenigsten hin.

Unerhörte Stimmen, Elif Shafak, S. 36

Leilas Erinnerungen werden immer durch einen bestimmten Geruch oder Geschmack eingeleitet, was der Erzählung etwas sehr Lebendiges verleiht. Auch Istanbul wird ohne viele Beschreibungen durch Shafaks toll eingewobenen Vergleiche und Metaphern so eindrücklich dargestellt, dass man das Gefühl bekommt, die Erinnerungen und die Stadt selber zu riechen, zu schmecken und zu sehen. Man fühlt Leilas Erinnerungen.
Abwechselnd mit den verschiedenen Erinnerungen, die Leilas Geist, kurz nach ihrem Tod, durchjagen, werden auch die Geschichten ihrer fünf Freunde beschrieben. Nachdem auch Leilas Geist etwa ab der Hälfte des Buches aufgehört hat zu arbeiten und in Erinnerungen zu schwelgen, wechselt die Erzählung dann ganz zu ihren Freunden, die jetzt mit ihrem Tod umgehen müssen.

“…vielleicht solltest du dir deine Depression zur Freundin machen…”
“Sehr witzig, Leila. Und wie?”
“Stell es dir so vor: Mit einer Freundin kann man im Dunkeln spazieren gehen, und man kann viel von ihr lernen. Aber gleichzeitig seid ihr unterschiedlich, du und sie. Du bist nicht deine Depression. Du bist viel mehr als deine Stimmung heute oder morgen.”

Unerhörte Stimmen, Elif Shafak, S. 298

Ich habe beim Lesen dieses Buches mit Leila und ihren Freunden mitgefiebert, oft geschmunzelt, mich oft über konservative Ansichten, die das Leben von Menschen zerstören können geärgert, war emotional berührt von den wunderbaren Freundschaften, die diese interessanten, aber oft gesellschaftlich verstoßenen Charaktere verbindet und stark macht und habe die ein oder andere Träne verdrückt. Dieser Roman geht wirklich unter die Haut und ins Herz. Trotz seines oft traurigen Themas, war es einfach wunderschön in diese Geschichte, in Leilas Leben einzutauchen. Und obwohl Istandbul nicht nur für Hoffnung, sondern gerade auch in Leilas Leben für viele Schwierigkeiten, Verluste und Niederlagen steht, weiß ich jetzt, dass ich diese unglaublich interessante Stadt unbedingt mal besuchen muss.

Fazit

Unerhörte Stimmen ist eine spannende und unglaublich toll geschriebene Lebensgeschichte. Man erhält Einblicke in die zerrissene Gesellschaft, die die Türkei auch heute noch, vielleicht gerade heute, prägt und verfolgt interessante Charaktere, die am Rande dieser Gesellschaft nur durch ihre tiefe Freundschaft zueinander Halt finden. Ich konnte dieses Buch kaum aus der Hand legen und konnte durch die eindrückliche Sprache wunderbar in die Geschichte eintauchen. Ich möchte diesen Roman wirklich jedem ans Herz legen.

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Titel: Unerhörte Stimmen
Autorin: Elif Shafak
Übersetzung: Michaela Grabinger
Verlag: Kein & Aber
erschienen am: 13. Mai 2019
Seiten: 432
ISBN: 978-3036957906
Preis (gebundene Ausgabe): 24,00€

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2 Kommentare

  • monerl

    Liebe Ricy,
    ich freue mich so, dass das dein Jahreshighlight ist! Das Buch habe ich bereits auf meiner Merkliste. Ich möchte es unbedingt lesen, weil es genau in mein Beuteschema passt. Die Autorin ist wirklich toll. Ich habe “Ehre” noch auf dem SuB von ihr. Kennst du es oder war das aktuelle Buch dein erstes?
    GlG, monerl

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