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[Rezension] “Die Gewitterschwimmerin” – Franziska Hauser

Worum geht’s?

Es geht um die Familie Hirsch. Großvater Friedrich Hirsch, jüdischstämmig, aber eigentlich Atheist, geboren Ende des 19. Jahrhunderts, kämpft im Ersten Weltkrieg und überlebt im Zweiten erst einige Monate Gefangenschaft im KZ, flüchtet dann nach England und baut später das Schulsystem der DDR mit auf. Sein Sohn Alfred flüchtet im zweiten Weltkrieg nach Frankreich, wo er im Widerstand gegen das Nazi-Regime kämpft und lebt später in der DDR, wo er als Schriftsteller bekannt wird. Alfreds Tochter Tamara wächst in der DDR auf und fühlt sich, obwohl sie durch die Kontakte und den Wohlstand ihrer Familie, äußerlich betrachtet, sehr privilegiert ist, stets gefangen und unglücklich im politischen System, im Elternhaus mit einer Mutter, die sie emotional vernachlässigt und einem Vater der sich an ihr vergeht, in Beziehungen zu Männern, die sie nicht erfüllen. Außerdem versucht sie ihre Schwester Dascha zu retten, die unter schweren Depressionen leidet und mehr und mehr dem Alkoholismus verfällt. Die Familiengeschichte umfasst ein ganzes Jahrhundert und wird von zwei Seiten ausgehend erzählt. Einmal chronologisch, beginnend Ende des 19. Jahrhunderts mit der Geschichte des Großvaters und des Vaters und einmal aus Tamaras Sicht rückwärts, beginnend nach der Jahrtausendwende und dem Tod ihrer Mutter, während Sie das Elternhaus grundlegend renoviert, das sie an ihre kaputte Familie erinnert. Denn eins ist klar, wirklich glücklich war hier keiner und trotz der auch allgemein dramatischen Zeiten, hat sich die Familie ein Großteil dieses Unglücks gegenseitig selbst angetan.

Meine Meinung

Ich hatte wirklich Schwierigkeiten mit diesem Buch und habe mich ziemlich durchkämpfen müssen. Was mich jedoch immer wieder angespornt hat, weiterzulesen war die interessante Erzählweise mit der zwei Erzählstränge, zeitlich in entgegengesetze Richtungen aufeinanderzu verlaufen.
Die Erzählung springt zwischen Tamaras persönlicher Erfahrung und der Geschichte ihrer Familie hin und her und umfasst mehr als ein ganzes Jahrhundert. Dementsprechend kann man sich bei etwa 400 Seiten schon denken, dass die historischen Ereignisse eher nur kurz angekratzt werden und die Familienmitglieder im Vordergrund stehen. Aber auch die kamen mir etwas zu kurz. Die Charaktere fand ich nur sehr oberflächlich ausgearbeitet, ihre Motivationen und Eigenschaften blieben oft sehr unklar. Selbst Tamara, aus deren Sicht ein Großteil der Geschichte erzählt ist, blieb mir sehr fremd. Mit ihrer wütenden, derben und ständig von allem und jedem nur genervten Art, fand ich sie, wenn überhaupt, anstrengend. Auch die meisten anderen Charaktere empfand ich als sehr unangenehm. Bei vielen natürlich verdientermaßen, wenn man betrachtet, was sie anderen so antun.
Denn damit kommen wir zum nächsten inhaltlichen Punkt: Missbrauch. Sowohl sexuelle Gewalt als auch emotionaler Missbrauch vor allem durch Vernachlässigung kommen in der Familie vor. Sowohl Vater Alfred als auch Mutter Adele werden ihren Töchtern gegenüber übergriffig und dulden das gleiche Verhalten auch noch von Freunden der Familie. Darüber hinaus zeigt die Mutter wenig bis kein Interesse an ihren Töchtern.
Bei Tamara führt es zu einer besonders forschen und eigensinnigen Art, mit der sie irgendwann selbst ihre Sexualität bewusst auslebt, während ihre Schwester Dascha ihren seelischen Schmerz im Alkohol ertränkt.
Durch die großen Zeitsprünge, das häufige Hin und Her zwischen den beiden Zeitsträngen und die für meinen Geschmack recht flachen Charaktere, hatte ich das Gefühl, dass dieses Buch inhaltlich zu viel wollte, was dann auf Kosten der Tiefe ging.
Dennoch schafft dieser Lebens- und Leidensweg der Familie Hirsch eine sehr bedrückende Atmosphäre. Als würden zwei Weltkriege und DDR-Tristesse nicht reichen, müssen natürlich noch familiärer Missbrauch, Depression und Suizid hinzukommen. Diese Familie macht echt einiges durch und das, obwohl es ihnen materiell gesehen gut geht und sie bei all den Schrecken, die das 20. Jahrhundert zu bieten hatte, meist glimpflich davonkommen. Das Buch drückt auf jeden Fall aufs Gemüt, was es für mich zu einer regelrechten Geduldsprobe gemacht hat, es zuende zu lesen.
Normalerweise finde ich es gut, wenn Bücher schwierige Themen behandeln und es schaffen, dieses Leiden für den Leser spürbar zu machen, doch hier fühlte sich für mich alles etwas überladen an, während die Charaktere und die Dialoge so platt wirkten.
Wenn gerade keine der Personen spricht, ist der Schreibstil hingegen intelligent und oft so pointiert, dass mit kleinen Details und kurzen aber klaren Sätzen, größere Bedeutungen im Lauf der Geschichte unterstrichen werden.
Besonders geschickt fand ich, wie bereits erwähnt, die Erzählweise, die zwei Erzählstränge aufeinanderzu laufen lässt. Während in dem einen die Familienmitglieder gegen die sichtbare Bedrohung der Nazis kämpfen, fragt man sich, welche zunächst nur angedeuteten, unsichtbaren Dämonen Tamara so verbittert gemacht haben, dass sie zum Beispiel während des Gewitters schwimmen geht, um das Schicksal herauszufordern. Die Erwartung, auf welche “gemeinsamen” Ereignisse die Handlungsstränge wohl hinauslaufen, hat definitiv die Spannung angeregt.
Dadurch, dass später noch weitere Charaktere, wie die Mutter oder die Haushälterin zur Sprache kamen, wurden der Geschichte noch weitere Perspektiven hinzugefügt.

Franziska Hauser hat in diesem Roman, wie sie in einer Notiz zu Beginn erklärt, die Geschichte ihrer eigenen Familie verarbeitet und scheint selbst Henriette, Tamaras Tochter, zu sein, die am Schluss des Buches, während sie am Handy die Diktierfunktion betätigt, beginnt, sich mit der Frage “Warum bist du eigentlich geworden, wie du nie sein wolltest?” die ganze Geschichte ihrer Mutter anzuhören.
Dass diese Geschichte eine reale Grundlage hat, macht sie zum einen umso erschreckender zum anderen wirft es auch einige Fragen auf: Wie steht die Autorin zu ihren einzelnen Familienangehörigen? Was ist real und was ist dazugedichtet? Wenn der Missbrauch, so wie beschrieben, stattgefunden hat, wie wurde er in der Familie aufgearbeitet?

Fazit

Die Gewitterschwimmerin erzählt die bedrückende Geschichte einer dysfunktionalen Familie, die ein ganzes Jahrhundert umspannt. Der Erzählstil ist zwar interessant und originell, führt aber auch zu einer großen Unruhe im Erzählfluss, was leider ein wenig auf Kosten der Tiefe der einzelnen Ereignisse und Probleme sowie der Charaktere geht. Diese Geschichte ist unangenehm und genau das muss sie ja auch sein.
Leider hat mich dieser Roman jedoch insgesamt ziemlich heruntergezogen, ohne dass mich die Charaktere dabei wirklich berühren konnten, was mir das Lesen wirklich erschwert hat.

Ich bedanke mich an dieser Stelle herzlich beim btb-Verlag und dem BloggerPortal für die Bereitstellung meines Rezensionsexemplars!

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Titel: Die Gewitterschwimmerin
Autorin: Franziska Hauser
in dieser Ausgabe erschienen am:
09. Dezember 2019
Verlag: btb Verlag
(zuerst 2018 im Eichborn-Verlag erschienen)
Seiten: 432
ISBN: 978-3442719150
Preis (Taschenbuch): 11,00€

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