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[Rezension] Der Steppenwolf von Hermann Hesse

Jeden Monat versuche ich mindestens einen Klassiker zu lesen. Nachdem ich mich letzten Monat durch Goethes Faust I gekämpft hatte, habe ich  auch diesen Monat wieder einen deutschen Klassiker ausgesucht: Die Wahl fiel auf Hermann Hesse, von dem ich schon lange mal etwas lesen wollte. Ich entschied mich für Der Steppenwolf.

Eine Geschichte, die mich in mancher Hinsicht immer wieder an Goethes Faust erinnerte. Aber dazu später mehr.

“Wenn ich eine Weile ohne Lust und ohne Schmerz war und die laue fade Erträglichkeit sogenannter guter Tage geatmet habe, dann wird mir in meiner kindischen Seele so windig weh und elend, dass ich die verrostete Dankbarkeitsleier dem schläfrigen Zufriedenheitsgott ins zufriedene Gesicht schmeiße und lieber einen recht teuflischen Schmerz in mir brennen fühle als diese bekömmliche Zimmertemperatur.” S. 35

Worum geht’s?

Harry Haller ist ein mittevierzigjähriger, sehr zurückgezogen lebender Mann. Gutbürgerlich erzogen und aufgewachsen, verlor er sein Ansehen und einen Großteil seines Vermögens und auch seine Frau warf ihn irgendwann aus dem Haus. Er entwickelte daraufhin eine starke Abneigung gegen alles Bürgerliche und gegen die Gesellschaft im Allgemeinen, stattdessen lebt er nun in einer rein geistigen Welt, in der er über sich selbst, das Leben, die Gesellschaft und die Bedeutung der Wissenschaft und der Künste nachdenkt. Er sieht sich selbst als einen Steppenwolf, als ein Wesen, das Unabhängigkeit sucht, verdammt dazu einsam und feindselig durch diese Welt zu vegetieren. Doch nicht nur als das, es gibt in ihm auch noch den menschlichen Harry, der immer noch etwas Bürgerliches an sich hat und doch irgendwie dazugehören will, leben und lieben will. Dieser Zwiespalt, weder das eine noch das andere ganz sein zu können zerreißt ihn innerlich, sodass er eines Tages beschließt, sich das Leben zu nehmen. Auf seinem Weg durch die Kneipen der Stadt, um sich davon abzuhalten, tatsächlich nach Hause zu gehen es zu beenden, trifft er Hermine. Eine scheinbar lebensfrohe junge Frau, die kein Vergnügen scheut und ihn dennoch versteht. Endlich jemanden an seiner Seite, der weiß, was in ihm vorgeht, ist er bereit, das Leben nochmal an sich heranzulassen. Er schmeißt sich in wilde Partynächte, lernt Tanzen und das leben zu genießen. Doch der Steppenwolf ist immer noch in ihm und kommt immer wieder zum Vorschein…

Meine Meinung

Was für ein Buch! Nachdem ich mich etwas durch die ersten hundert Seiten quälen musste und das Buch dann für einige Tage ganz vernachlässigt hatte, weil es, um ganz ehrlich zu sein, meiner Meinung nach etwas dauert, bis man sich in Hesses Stil hineingelesen hat, las ich die restlichen knapp 200 Seiten dann an nur etwas mehr als einem Tag und habe mich richtig in seine Sprache verliebt. So sehr war ich fasziniert von Harry Hallers innerer Zerrissenheit seinen Qualen, die durch einen unglaublich eindringlichen Schreibstil für mich spürbar wurden und mich in seinen Sog der Verzweiflung hineinzogen. Hermines Auftauchen ist nicht nur ein Hoffnungsschimmer in Hallers Leben, sondern löste auch bei mir etwas den Knoten in der Brust, der sich dort während der Lektüre des Steppenwolfs bis dahin festgesetzt hatte.

“Denn dies verabscheute ich von allem doch am innigsten: diese Zufriedenheit, diese Gesundheit, Behaglichkeit, diesen gepflegten Optimismus des Bürgers, diese fette gedeihliche Zucht des Mittelmäßigen, Normalen, Durchschnittlichen.” S. 36

Harry Haller verachtet die bürgerliche Gesellschaft, hält sie für oberflächlich, falsch und naiv, wie sie gerade einen Krieg überwunden in den nächsten hineinsteuert. Er hat sich immer weiter in die Welt seines Geistes zurückgezogen, gibt sich mit richtiger Musik von Mozart oder Händel ab, liest die Bücher alter Dichter wie Goethe und findet aber auch da keine Erfüllung. Seine Versuche, wieder mit dem gesellschaftlichen Leben in Berührung zu kommen, werden immer wieder durch den Steppenwolf kaputtgemacht, den er dann zähnefletschend hinter sich spürt. Jedes mal, wenn er versucht Kontakt zum normalen Leben aufzunehmen, kommt es ihm wieder falsch vor. In Hermine findet er eine Verbündete, die ihm zuhört, ihn versteht und es schafft, ihn wieder in die Welt zurückzuholen. Dabei habe ich mich jedoch immer wieder gefragt, ob Hermine real ist, oder seiner Vorstellung entsprungen, bei dem verzweifelten Versuch, irgendwie wieder mit dem Leben in Kontakt zu treten.

“Plötzlich ein Mensch, ein lebendiger Mensch, der die trübe Glasglocke meiner Abgestorbenheit zerschlug und mir die Hand hereinstreckte, eine gute, schöne, warme Hand! Plötzlich wieder Dinge, die mich etwas angingen, an die ich mit Freude, mit Sorge, mit Spannung denken konnte! Plötzlich eine Türe offen, durch die das Leben zu mir hereinkam! Ich konnte vielleicht wieder leben, ich konnte vielleicht wieder ein Mensch werden.” S. 132

Die Zwiespältigkeit der Identität, zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch, wobei Harry irgendwann erkennt, dass er nicht nur aus zwei Ichs besteht, sondern aus tausenden, was für mich die besondere Aussage des Buches ausmacht. Jeder trägt unendlich viele Persönlichkeiten in sich, die sich irgendwie und sich stets verändernd zu unserem Ich zusammensetzen. Wie bei einem Figurenspiel. Etwas, das Harry im Magischen Theater kennenlernt: Er hält all seine Ichs als Figuren in der Hand und kann diese wie auf einem Schachbrett neu anordnen.

“Die fehlerhafte und Unglück bringende Auffassung, als sei ein Mensch eine dauernde Einheit, ist Ihnen bekannt. Es ist Ihnen auch bekannt, dass der Mensch aus einer Menge an Seelen, aus sehr vielen Ichs besteht. Die Scheinbare Einheit der Person in diese vielen Figuren auseinanderzuspalten gilt für verrückt, die Wissenschaft hat dafür den Namen Schizophrenie erfunden. Die Wissenschaft hat damit insofern recht, als natürlich keine Vielheit ohne Führung, ohne eine gewisse Ordnung und Gruppierung zu bändigen ist. Unrecht dagegen hat sie darin, dass sie glaubt, es sei nur eine einmalige, bindende, lebenslängliche Ordnung der Unter-Ichs möglich.” S.245/246

Er versteht, dass es aus diesem Spiel, die vielen Verschiedenen Ichs zusammenzusetzen und ständig neu zuordnen, keinen Ausweg gibt, außer ihm mit mehr Humor zu begegnen, sich selbst nicht so ernst zu nehmen.

„Einmal würde ich das Figurenspiel besser spielen. Einmal würde ich das Lachen lernen.” S. 278

Der Steppenwolf könnte fast als dramatisch geschriebener, versteckter Selbsthilfe-Ratgeber durchgehen: Durch Harry Hallers Selbstentdeckungsreise wird dem Leser deutlich gemacht, dass in jedem von uns eine Vielzahl verschiedener Ichs schlummern, deren Diskrepanzen uns manchmal fast zur Verzweiflung bringen und gefühlt unsere Persönlichkeit in Frage stellen. Doch letztendlich ist es genau das, was uns ausmacht. Das Leben ist eine ständige Selbstfindung ein ständig neues Anordnen unserer Unter-Ichs. Ein Figurenspiel, welches uns auch die Möglichkeit gibt, immer wieder neues Glück zu finden, wie auch in Harrys Fall.

Das Wundermittel, um dabei nicht zu verzweifeln, ist, sich selbst und die Gesellschaft nicht so ernst zu nehmen.

“Nun, aller höhere Humor fängt damit an, dass man die eigene Person nicht mehr ernst nimmt.” S. 227

Das, was diese Steppenwölfe der Literatur wie Harry Haller, Goethes Faust – mit dem es immer wieder verglichen wird und zu dem es einige Referenzen im Buch gibt – oder auch Holden Caulfield (The Catcher in the Rye), oder Alexander Supertramp (Into the Wild) und viele andere für uns Leser so greifbar macht, dazu führt, dass wir sie so gut verstehen können und uns in sie hineinversetzen können, ist wahrscheinlich der, dass wir ein bisschen von dieser Gesellschaftsverachtung in uns selber finden können. Ein bisschen von dieser Oberflächlichkeit und Belanglosigkeit, dieser Falschheit und Verlogenheit, die die (tragischen) Helden dieser Geschichten zur Verzweiflung bringt, müssen wir ja auch jeden Tag in der Welt beobachten. Wie gut wir dennoch damit leben können, ist wahrscheinlich davon abhängig, welche Position der Steppenwolf in unserem eigenen Figurenspiel einnimmt.

Fazit

Der Steppenwolf ist für mich ein ganz besonderes Buch. Der unglaublich eindringliche Schreibstil zog mich in den Bann und ließ mich nicht mehr los. Ich hätte hier Unmengen an Lieblingszitaten auflisten können. In diesem Buch steckt einfach so viel Wahrheit und Weisheit, dass ich es wirklich jedem empfehlen kann. Die Aussage, dass kein Mensch ein einheitliches unveränderbares Ganzes ist und das man immer wieder an den Punkt kommt, an dem man sich selbst bzw. Teile davon neu entdecken und einordnen muss finde ich unglaublich interessant. Und, dass man das leben und sich selbst nicht so ernst nehmen soll, um glücklich zu sein, ist wahrscheinlich eine der ältesten und wichtigsten Lebensweisheiten, die schön in dieses Buch eingebunden ist. Es ist dennoch kein einfacher Roman. Für mich hat es eine Weile gedauert, bis ich mich eingelesen hatte und es erfordert meiner Meinung nach auch Einiges an Selbstreflexion, um wirklich zu Verstehen, was in Harry vorgeht und was er letztendlich daraus lernt.  Es regt also definitiv zum Nachdenken an und lässt einen nicht so leicht wieder los. Ich habe auf jeden Fall jetzt große Lust, weitere Bücher von Hermann Hesse zu lesen!

“Sie Sollen die verfluchte Radiomusik des Lebens anhören lernen, sollen den Geist hinter ihr verehren, sollen über das Klimbim in ihr lachen lernen. ” S. 277

Eine andere tolle Rezension findet ihr auch bei Ida’s Bookshelf.

Titel: Der Steppenwolf
Autor: Hermann Hesse
Verlag: Suhrkamp (erste Auflage 1974)
erstmals erschienen: 1927
Seiten: 278
ISBN: 9783518366752
Preis: 8,50 €

 

 

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11 Kommentare

  • Erika

    Ich habe den Steppenwolf mit 15 gelesen – wie so viele meiner Freunde damals – ich frage mich, was ich damals wirklich davon verstanden habe. ich muss ihn noch mal hervor holen. Danke für die Besprechung!

  • ricysreadingcorner

    Hallo Erika,

    Ich bin mir ehrlich gesagt auch nicht sicher, ob ich ihn jetzt mit 26 richtig verstanden habe, er lässt einfach sehr viel Raum für Interpretation, aber das gefiel mir so sehr daran!

    Liebe Grüße
    Ricy

  • Ida

    Liebe Ricy,

    danke für diese wahnsinnig gute Rezension! Du sprichst mir aus der Seele. Der Einstieg war auch für mich ein wenig schwierig, aber wenn man sich dann auf Hesses Stil eingelassen hat, war man so berührt, so fasziniert von der Geschichte. Das schreibe ich ganz besonders Hesses Schreibstil zu, den ich Seite um Seite verschlungen habe. :) Dass man den Steppenwolf auch als Selbsthilfebuch lesen kann, ist mir beim Lesen auch aufgefallen! :D Ich bin immer noch ganz fasziniert davon, wie sehr mich diese Zerrissenheit berührt hat, die Hesse so einmalig schildert. Und ich finde deine Rezension so gut, dass ich sie nachträglich noch unter meiner eigenen verlinken werde! :D

    Hab einen wunderbaren Montag!
    Ida <3

    • ricysreadingcorner

      Hallo Ida,

      danke für deinen lieben Kommentar :) ja, Hesse hat wirklich einen ganz besonderen Schreibstil! Es freut mich, dass es dir auch so gut gefallen hat!

      Danke für die Verlinkung <3
      Liebe Grüße
      Ricy

  • alfredo

    hey ricy, bin hier, weil ich nach fünfzig seiten des lesens irgendwie nicht warm werde mit dem buch. aber nachdem es dir ja ähnlich ergangen ist, auf zu den nächsten 50 ;-) ein entspanntes wochenende dir!

  • Stephani Hans

    Das Buch trägt autobiographische Züge. Das fällt auf, wenn man Hesses Beziehung zu seiner zweiten Frau berücksichtigt, mit der Tochter des Schweizer Messerfabrikanten, Ruth Wenger. Hier hadert Hesse zwischen einem angepassten Leben und einer
    unkonventionellen Ehe, wie sie oft von Künstletn gelebt werden. Diese Ambivalenz quält ja auch Harry
    Haller, Leben als Outsider, aber doch
    auch eine latente Sehnsucht nach einem geordneten, bürgerlich angepasstem Leben.
    Hesses Schreibstil, sein Ductus ist eindringlich, präzise und klar. Zu Beginn muss man sich etwas an seinen Stil gewöhnen, aber er
    schreibt lebensnah und eindringlich.
    Der Roman zeigt, dass jeder von uns
    verschiedene Seiten hat, welche, je nach Lebenslage sehr verdchieden sein können. Beinahe ein Ratgeber
    für viele Leute.
    Sehr empfehlenswertes Buch.

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