[Rezension] “Die Sommer” von Ronya Othmann
Lange bin ich in der Buchhandlung um dieses Buch herumgeschlichen, dieses Buch mit dem ungewöhnlich lilafarbenem Cover und dem interessanten Klappentext, der jedoch nicht annähernd ahnen lässt, was dieses Buch einem alles gibt. Gut, dass ich es letztendlich doch gekauft habe!
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Leyla wächst als Tochter einer deutschen Mutter und eines kurdischen Vaters in Deutschland auf. Doch die Sommer verbringt sie immer im kleinen Heimatdorf des Vaters im Norden Syriens. Die Gartenarbeit und das Kochen mit der Großmutter, die Besuche von und bei weiteren Verwandten, das Spielen mit ihren Cousins und Cousinen, träge Nachmittage in der trockenen Hitze, das Schlafen im Hof unter freiem Himmel, die Geschichten der Tanten und Onkel. All das verbindet Leyla mit ihren Sommern in dem kleinen Dorf. Es sind Erinnerungen voller liebevoller kindlicher Leichtigkeit, obwohl sich schon damals immer wieder dunkle Schatten in diese Bilder mischten… zum Beispiel, wenn Leyla an die großen Bilder des Präsidenten denkt, die überall hängen oder wenn ihr Vater und die anderen Verwandten erzählen, wie sie ihre kurdischen Bücher im Garten vergraben mussten, wie die Großeltern vor langer Zeit aus ihren Heimatdörfern, später dann der Vater und weitere Verwandte nach Deutschland fliehen musste. Wie der Vater in Syrien nicht studieren durfte, weil er als Ausländer galt, als Staatenloser. Und so vieles mehr. Es gibt so viele Geschichten.
Leylas Familie gehört zur ethnischen Minderheit der Eziden, die schon in der Geschichte immer wieder verfolgt wurden. In der Türkei, im Irak, in Syrien. Während sie unter Assads Regime zwar schon lange als Staatenlose galten und aufpassen mussten, was sie sagten, sind Leylas Kindheitserinnerungen an die Sommer trotzdem eher von unbeschwerten Momenten geprägt, geborgen von der Familie und der Dorfgemeinschaft.
Die unterschwellige Gefahr für sie zu abstrakt.
Doch dann kommt das Jahr 2011 und mit ihm der erste Sommer, in dem Leyla nicht in das Dorf zurückkehren kann, weil es zu gefährlich ist.
In ihrem Elternhaus wird der Fernseher gar nicht mehr ausgeschaltet, immerzu laufen die Nachrichten. Diese Nachrichten, die wir alle hier kennen, die aber durch Leylas Verbundenheit mit diesem Land eine ganz andere Wirkung und Bedeutung haben. Ihr Leben bekommt einen “Bruch”, ist nicht mehr wie zuvor. Sie, die in Deutschland in Sicherheit ist, zum Studieren in eine andere Stadt gezogen ist, kann die Sorge um die Familie nicht mehr verdrängen, alles was sie tut, kommt ihr falsch und unwichtig vor. Sie ist gefangen zwischen diesen zwei Welten. Früher war das, was sie von ihren Cousinen unterscheid, dass es im Gegensatz zu ihnen nicht ihr größtes Ziel war zu heiraten, das sie das Dorf nicht so gut kannte, wie die anderen Kinder, die das ganze Jahr dort lebten, und dass ihre Cousine ihr manchmal vorwarf, gar keine richtige Ezidin zu sein. Doch das ist plötzlich unwichtig. Denn jetzt ist sie in Sicherheit und ihre Verwandten nicht, sie darf frei ihr Leben leben und die Eziden in Syrien nicht und diese Ungerechtigkeit ändert für Leyla alles.
Das Buch hat mich so unglaublich berührt.
Die Beschreibung der Sommer in dem Dorf fühlten sich zunächst so fremd an, viele Beschreibungen wiederholten sich. Hinzukommt, dass die Erzählung nicht immer chronologisch ist. Immer wieder kommen auch Erzählungen vom Vater, von anderen Verwandten dazwischen, doch genau das macht es letztendlich so authentisch. Es ist wie ein großes Familientreffen, bei dem man von einer Erinnerung, einer Anekdote zur nächsten kommt. Und so bekam ich ein immer besseres Gefühl für dieses Dorf, für die Menschen und das Leben dort. Die bildhafte, eindringliche Sprache führte dazu, dass ich mir die trockene, staubige Landschaft, das Lehmhaus und den Gemüsegarten, die Familie, die in diesen einfachen Verhältnissen und dennoch zufrieden lebt, richtig vorstellen konnte. Und trotzdem täuscht die Dorfidylle nicht darüber hinweg, wie es für diese Menschen sein muss, ausgestoßen im eigenen Land zu sein, öffentlich nicht zu den eigenen Wurzeln stehen zu dürfen, niemandem wirklich zu vertrauen und in ständiger Vorsicht zu leben.
Ich bekam das Gefühl, selbst schonmal da gewesen zu sein, obwohl es eine Gegend ist, die ich nicht kenne, über die ich bisher kaum etwas wusste. Kurdistan, ein Land das keins ist und doch irgendwie da ist, dass es nicht geben soll, nach Meinung der Länder, über die es sich erstreckt, weshalb Leyla diese Bezeichnung auch nicht in den Mund nehmen soll. Ich konnte diese Zerrissenheit, sich einerseits dort zuhause zu fühlen und dennoch ständig zu fürchten, nicht sicher zu sein, fast spüren.
Und dann, nachdem ich mich in diesen Kindheitserinnerungen eingefunden hatte, kam der zweite Teil der Geschichte, der mir dann mein gerade gewachsenes Herz für diese Familie und „die Sommer“ wieder herausreißen wollte. Revolution, Bürgerkrieg, Terror, Massaker. Und das alles muss Leyla hilflos aus Deutschland durch den Fernsehbildschirm und auf YouTube mit ansehen, während ihre deutschen Freundinnen von ihr erwarten, dass sie ihr Leben lebt, wie man es von einer unbeschwerten Studentin erwartet…
Dieses Buch sorgt wirklich dafür, dass man ein bisschen besser versteht, was Flucht und Entwurzelung eigentlich bedeuten. Aber auch, was es bedeutet in einem Land aufzuwachsen, aber auch Wurzeln in einem anderen zu haben. In beiden dazuzugehören und doch wieder nicht ganz. Es zeigt schonungslos, was für Grausamkeiten jeden Tag auf der Welt passieren, obwohl die meisten Menschen doch nur in Ruhe leben wollen. Und es zeigt vor allem, dass Geflüchtete nicht zwangsläufig glücklich sein müssen, in Deutschland leben zu dürfen, wie es die Erwartungshaltung hier manchmal zu sein scheint, sondern, dass es schlichtweg ein „Ersatzleben“ ist und oft bleibt, weil sie keine andere Wahl hatten. Dass sie ihre Heimat vermissen, obwohl sie dort verfolgt wurden und oft ärmer waren als hier.
Ein wunderbares und berührendes Buch! Und ein sehr wichtiges Buch, das wirklich den Horizont erweitern kann!
Bitte lest es alle, wenn ihr einen Blick über den Tellerrand erhaschen wollt. Und auch wenn nicht, denn dann braucht ihr dieses Buch erst recht!
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Anzeige// Angaben zum Buch
Titel: Die Sommer
Autorin: Ronya Othmann
Verlag: Hanser Verlag
erschienen am: 17. August 2020
Seiten: 288
ISBN: 978-3446267602
Preis (gebundene Ausgabe): 22,00€
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2 Kommentare
Maike
Hatte das Buch auch schon mehrmals in der Hand, hab es aber bisher immer wieder zurückgelegt, weil ich noch so viele andere Sachen lesen will, aber was du da erzählst klingt wirklich interessant und lesenswert…. Im neuen Jahr dann ganz bestimmt. :)
LG
ricysreadingcorner
Unbedingt! Lohnt sich wirklich :)
LG